Neue Armut - Zu wenig zum Leben daher arbeiten bis zum Umfallen ?

in #deutsch7 years ago

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Zeitmangel ist die einzige Not, die den Menschen nicht zu schmerzen scheint
(Ernst Reinhardt)


Tausch Frei-Zeit gegen andere Währungen

Mein letzter Beitrag beschäftige sich ja mit der 3 Tage Woche und dem Verhältnis von Arbeits-Zeit zu Leistung.

2013 habe ich zum ersten Mal einen Job ca 400 km von meiner Familie angenommen. Dabei hatte ich als Leitender Oberarzt eine 4 Tage-Woche, konnte also jeweils am Donnerstag nachmittags nach Hause fahren.
Dafür hatte ich quasi einen "freien Tag", den FREI-Tag.

Ich tauschte also Zeit ein. Ein wenig auch gegen Geld, sehr stark aber gegen Entfernung von meiner Familie. Aber möglicherweise (wahrscheinlich) belastete ich damit das Zeitkonto meiner Frau. Seit ich mich mit Blockchain bzw. Steemit.com beschäftige, kamen mir diese Überlegungen wieder in den Sinn. Schliesslich geht es hier ja auch um eine Währungsfrage bzw. ein Tauschgeschäft.

Aber letztlich hat es sich (bisher) durchaus positiv ausgewirkt, dass ich mir mehr Zeitwohlstand leiste. Oder genauer gesagt, für 4 Jahre geleistet habe. Denn derzeit bin ich - jetzt eine Hierarchie-Stufe höher - wieder im Moloch der 5 Tage Woche. Klar, ich arbeite gerne. Sehr gerne. Aber die Freiheitsgrade werden wieder weniger.

Auf einer der Heimfahrten hörte ich damals ein Interview mit Prof. Merz von der Leuphana Universität in Lüneburg. Da ich ursprünglich Lüneburger bin, interessierte mich das natürlich noch einmal besonders.


Multidimensionale Armut : Armut an Zeit und Zeitwohlstand

Es geht um eine multidimensionale Armutsdefinition mit der zusätzlichen Dimension Einkommen und Zeit. In Deutschland fallen 6,8 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Sie gehören zu den „working poor“ obwohl sie 5 h und mehr arbeiten, aber nicht genug Geld damit verdienen können.

Es gibt aber nach Merz und Mitarbeitern eine neue Armutszone, die durch einen Mangel an Freizeit = freie Zeit definiert wird.

Das sind also Menschen, die zwar ein ausreichendes Einkommen haben, denen aber durch Arbeit, Kindererziehung bzw. Kinderbetreuung oder andere Verpflichtungen wie z.B. die Pflege von Angehörigen keine Zeit mehr bleibt. Sie leben in einem ständigen Zeitdruck bzw. Zeitmangel durch Stress.

12,3 Prozent der Deutschen sind in der neuen Zeitarmut

Das ist gut doppelt so viel wie nach der herkömmlichen Armutsdefinition, die nun „nur“ die finanzielle Lage berücksichtigt. Hier geht es nicht nur um Zeitmangel bzw. Zeitdruck und Stress. Es geht um einen Index, der eben die verfügbare Zeit und die verfügbare finanzielle Situation berücksichtigt.

Ist Zeit nun Geld ?

Finanzieller Druck mit einem überzogenen Dispo bei der Bank fühlt sich durchaus ähnlich an wie ein überzogenes Zeitkonto bzw. Zeitmangel. Wir sehen es häufig nur nicht so. Wir gehen eine Zeitschuld ein, so wie viele Menschen über eine Kreditkarte halt materielle Güter erwerben, die sie sich nicht leisten können. Statt Zeitmanagement wäre also Energie-Management wichtig. Oder eben eine Art Börse, in der Mann Zeit / Energie gegen Geld tauschen könnte.

Die Lebensqualität bzw. Zufriedenheit wird also in ähnlicher Weise durch einen Mangel an Zeit wie ein Minus auf dem Konto beeinflusst.

Zeitarmut ist nicht so ablesbar wie rote Zahlen auf dem Girokonto.

Zeitarmut : Die üblichen Verdächtigen für die Armutsgrenze

Akademiker sind immer noch besser dran als der Rest. So schützt ein höherer Bildungsabschluss bzw. Studium in gewisser Weise doch . Zumindest sind dann „nur“ noch 9,4 Prozent der Akademiker gegenüber 12,6 Prozent der „Normalbevölkerung“ von multidimensionaler Armut (unter Berücksichtigung der Zeitschuld) betroffen. Auch noch viel.

Prof. Merz in Lüneburg forscht überwiegend über „freie Berufe“, d.h. auch oder gerade Selbstständige.
Ich denke, in gewisser Weise sind die Ergebnisse aber gut auf andere Berufsgruppen übertragbar

Über 2/3 der Selbstständigen bzw. Freiberufler sind „zeit-arm“.

Sie haben damit weniger als 60 Prozent der Freizeit zur Verfügung, die in der Erhebung von rund 35000 Personen hinsichtlich ihres persönlichen Zeitbudget in den Jahren 2001 / 2002 ermittelt wurden. Weniger Freizeit, aber eben auch meist zu wenig Einkommen.

29,4 Prozent der Selbstständigen sind also nach dieser Armutsdefinition betroffen.

Das können Einzelhändler, Gastwirte, Ärzte, Rechtsanwälte oder sonstige Freiberufler sein. Die eben weit längere Arbeitszeiten als die durchschnittlich arbeitende Bevölkerung haben. Und dies eben nicht durch Geld ausgleichen können.

Aber man muss nun nicht Unternehmer oder Einzelhändler sein, um unter die neue Armutsgrenze zu fallen

• 19,9 Prozent der Alleinerziehende sind durch die Mehrfachbelastung von Geldverdienen und Zeit für Kinderbetreuung und Erziehungsaufgaben von Zeitarmut nach dieser Definition betroffen

• Kinderreiche Familien mit 3 oder 4 Kindern leiden zu 31,6 Prozent an Symptomen dieser Zeit-Armuts-Definition

Aber ob man nun ein Zeitmangel für Spielen mit seinen Kindern oder schöner Zeit mit seiner Partnerin mit einer Geld ausgleichen kann oder gar sollte ? Sicher nicht !

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Zeitarmut führt zu Depressionen

Begriffe wie Burnout oder Erschöpfungsdepression sind in aller Munde.
Im Deutschen Ärzteblatt lese ich eine Erhebung die sich letztlich auch mit dem Zusammenhang von
Burnout und Depressionen durch Zeitarmut beschäftigt. Dabei geht es um die Auswirkungen von ständiger Erreichbarkeit, Flexibilität im Beruf bzw. „Bereitschaft“ zu Überstunden beschäftigt. Danach sind 2/3 der Berufstätigen mit ständigen Überstunden belastet, 22 Prozent sind dann auch in der „Frei-Zeit“ für den Arbeitgeber abrufbar bzw. ständig erreichbar. 18 Prozent der 2000 befragten Arbeitnehmer gaben an, private Aktivitäten deswegen ausfallen zu lassen.

Fast jeder 4. Befragte gab an, aus diesem Grund zu erschöpft zu sein, privaten Verpflichtungen bzw. Hobbys nachzugehen.

Letztlich ist aber eine deutliche Übereinstimmung in der Lebenswirklichkeit hinsichtlich Zeitwohlstand bzw. Zeitarmut der Patienten in der Klinik mit den Einweisungsdiagnosen wie Burnout, Erschöpfungsdepression etc zu sehen.

Und wenn man es sich genauer anschaut, so erfasst der neue multidimensionale Armutsbegriff eigentlich ganz gut genau die Zielgruppe, die uns jetzt zu erhöhten Fehlzeiten in den Betrieben bzw. Bedarf an ambulanter oder stationärer Behandlung im Bereich Psychiatrie und Psychotherapie führt.

Wir haben bei uns in der Klinik immer mehr Alleinerziehende, Mütter und Väter von „kinderreichen“ Familien und eben auch Selbstständige unter unserer Patienten.

Anders ausgedrückt :

  • Erschöpfungsdepressionen und Burnout sind häufig auch als überschrittener Dispo im Zeitkonto zu verstehen.

Daneben verunmöglichen Arbeitsplatzkonflikte bzw. Mobbing und Stalking häufig eine Erholung in der Freizeit.

Es sind die „Zeit-Arbeiter“ der Moderne, die eben besonders gefährdet für ein Ausbrennen sind. Ihren rinnt quasi die Zeit wie anderen Geld durch die Finger.

Zeitkredit und ein ungedeckte Spekulation auf eine bessere Zukunft

Und die Erwartung an Zeitkrediten an den Arbeitgeber wird eben immer stärker. Dies betrifft beispielsweise Erzieherinnen in Kindergärten oder Betreuer in Wohngruppen, die dann den krankheitsbedingten Ausfall von Kolleginnen oder Einsparungen der öffentlichen Hand mit einem Zeitkredit auf ihre Gesundheit einlösen sollen. .

Ein Kredit, der aber nicht zurückgezahlt wird. Häufig werden ja noch nicht mal die Überstunden finanziell abgegolten.

Wie man sich leicht vorstellen kann, entsteht eine immer schneller und tiefer verlaufende Spirale nach unten. Ein Ausstieg erscheint völlig utopisch. Bis es nicht mehr geht.

Krankschreibung und Erwerbsminderungsrente als Ausstieg aus der Zeitschuld-Spirale ?

Immer weniger Menschen fühlen sich gesundheitlich in der Lage, weiter ihr Zeitkonto zu überziehen. Sie kündigen ihrem Arbeitgeber den ungedeckten Zeitkredit. Sie würden gerne ein Inkassobüro beauftragen die ungedeckten Forderungen einzutreiben.

Krankschreibungen bzw. der Wunsch nach einer Erwerbsminderungsrente wegen psychischer Probleme erscheinen dabei als Ausweg aus der Zeitarmutsfalle.

Letztlich irgendwo nachvollziehbar. Doch die sozialmedizinischen Regelungen für Leistungsfähigkeit berücksichtigen eben gerade nicht die Auswirkungen dieser multidimensionalen Zeit-Armut.

14 Tage Krankrscheibung wegen Burnout oder Erschöpfung decken das Zeitkonto nicht !

So verständlich ein Wunsch nach einer Aus-Zeit auch ist, so wenig wird damit das eigentliche Problem gelöst.

Häufig wird dann einfach abgewartet. Es wird auf Zeit gespielt, zumal ja 18 Monate Lohnentgeltszahlungen möglich sind. Aus Sicht der Betroffenen verständlich.

Aus therapeutischer Sicht aber meist keine gute Idee. Einmal davon abgesehen, dass dann selten eine Psychotherapie zeitnah verfügbar ist, so wird man das Problem vermutlich auch nicht über Psychopharmaka oder eine Gesprächstherapie allein in den Griff bekommen. Zumindest dann nicht, wenn man sich nicht mit der Zeitbilanz bzw. „Life-Balance“ beschäftigt.

Es geht also genau um die von in der Studie erfasste Gruppe von Berufstätigen, die nun über 5 bzw. 6 h am Tag arbeiten müssten, dies aber aus Zeitarmutsgründen nicht mehr können.

Die sozialmedizinischen Kriterien von Leistungsfähigkeit berücksichtigen dies aber so nicht.
Es geht um einen abstrakten Begriff von Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Danach ist Leistungsfähigkeit gegeben, wenn irgendeine leichte bis mittelschwere Tätigkeit über 6 h ausgeübt werden kann. Unabhängig von der Frage, welche Faktoren sonst das individuelle Zeitlebenskonto belasten.

Zudem wird gefordert, dass auf absehbare Zeit (also ein Zeitraum von mindestens 6 Monaten bzw. 2—3 Jahren) eine Besserung theoretisch möglich wäre. Also im Prinzip eine Therapie in Form von mehreren Antidepressiva, ambulanter oder stationärer Psychotherapie ernsthaft versucht wurde, aber keine Aussicht auf Erfolg haben wird.

Aus sozialmedizinischer Sicht werden die meisten Gutachter dann also die Betroffenen „gesund schreiben. “.

Selbst wenn es sich ganz und gar nicht gesund anfühlt.

Mal ganz davon abgesehen, dass eine vorzeitige Berentung in aller Regel mit einem Absturz auf Hartz IV-Niveau führt und damit wiederum unter die Armutsgrenze stürzt

Gibt es Wege aus der Zeitinsolvenz ?

Auch wenn eine Berentung dann also vielleicht zu mehr freier Zeit führen würde, ist dies also keine wirkliche Lösung. Wenn dann Patienten von der Rentenversicherung in die Reha-Kliniken zugewiesen werden, ist die Zeit für eine Veränderung meist schon abgelaufen. Es droht die Zeit-Insolvenz.

Das wird auf Dauer verdammt teuer für unsere Sozialsysteme und letztlich auch den qualifzierten Arbeitsmarkt. Uns werden zukünftig schlicht und ergreifend Arbeitnehmer fehlen oder die Rentensysteme das nicht auffangen können.

Es ist an der Zeit sich mit neuen Wegen zu mehr Zeitwohlstand bzw. Wegen aus der Zeitarmut zu befassen.

Eine erste Version habe ich 2014 auf meinem Blog Seelenklempnerei zu diesem Thema geschrieben

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Sehr schöner Artikel! In meinem aktuellen Beitrag habe ich auch über die Zeit geschrieben, die irgendwie nur so davonrast. Man hat irgendwie keine Zeit mehr, jeder ist irgendwie nur am Hetzen. Ich finde das sehr schlimm, denn die freie Zeit kann kein Geld der Welt ersetzen. Die heutige Arbeitswelt ist so unmenschlich geworden, dass die Menschen bereits am Limit angekommen sind und einfach nicht mehr können. Ihnen wird jegliche Zeit geraubt. Das kann nicht der Normalzustand sein!

Danke, werde ich gleich mal lesen und weiterleiten. Ob die Arbeitswelt entfremdet und unmenschlich ist liegt auch an uns. An jedem von uns. Wir sind ja die Arbeitswelt.

Lieber Martin, das ist ein hochinteressanter Artikel!
Ich war auch von dieser Zeitarmut betroffen und es hat lange gedauert, bis ich begriff, sie mir selbst zugefügt zu haben. Sicher hast du im psychosomatischen Bereich mit Lehrern zu tun, die eine hohe "Burnout"-Quote vorweisen. Liegt unter anderem daran, dass sie sich ihre unterrichtsfreie ZEIT so schön FREI einteilen können, was bedeutet, dass der ambitionierte Kollege alles immer noch viel besser machen kann und schwuppsdiwupps - weit im Minus. Das musste ich erstmal durchschauen, habe mir einen freien Tag die Woche gegönnt, komme gut aus mit dem Dreiviertelgehalt. Und was macht Oberschlaui? Richtig, am freien Tag nochmal so richtig was für den Arbeitgeber reißen... Hat mich tatsächlich einen Klinikaufenthalt (ohne vorher oder hinterher auch nur einen Tag krank geschrieben zu sein - auch krank) gekostet. Das war aber keine verschwendete ZEIT, habe viel gelernt und nutze seither meinen freiien Tag nur für mich nach Lust und Laune. Geht gut!
Danke nochmal fürs Teilen deiner interessanten Ausführung,
LG, Christiane

Erstmal ist jede Veränderung schwer. In der Klinik kann man das ja jeweils gut beobachten. Wir Therapeuten arbeiten ja weit mehr als gut ist. Und viele unserer Patienten sind seit Monaten raus aus der Arbeit, hatten aber davor eben 55 h und mehr. Sich dann wieder auf eine gute Regulation von zuviel und zuwenig Arbeit zu einigen fällt echt schwer.

Hey,
Ich verstehe dich, ich habe bis Oktober vollzeit gearbeitet und bin mit Überstunden auf 45 Wochenstunden gekommen. Dann habe ich noch ein Unternehmen gegründet und bin damit auf rund 60 Wochenenstunden gekommen. Natürlich habe ich noch meine sozialen Kontakte geplfegt, aber kaum noch Zeit für mich gehabt. Keine Zeit mehr für Hobbies und mir ist jetzt im nachhinein aufgefallen, dass man zu einem gewissen grad abstumpft. Es gibt so viel mehr als nur Arbeit. Die Symptome die du geschildert hast, haben voll und ganz auf mich zugetroffen. Habe mir dann Urlaub genommen und wurde darauf hin gekündigt und fokussiere mich jetzt mehr auf mein Unternehmen, in dem ich mehr Freiheiten habe.
LG

Guter Ansatz. Viel Erfolg dabei. Leider passiert es schnell, dass dann wieder ein Mehrbedarf von Arbeit entsteht. Dann das richtige Tempo beizubehalten bzw. nicht unterzugehen, dass ist die wahre Herausforderung. Mehr Arbeiten kann ja Jeder. Das gleiche Tempo beibehalten bzw. für sich selber dann noch zu Sorgen, dass ist die wahre Meisterschaft

Stimmt, es gilt das richtige Mittelmaß zu finden

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Hallo Martin,

deinen Artikel finde ich klasse. Was ich nicht verstehe ist, dass Du mit Deiner Arbeit ja verstanden hast, was Zeitarmut anstellt, aber dennoch diesen Karriereschritt zum Chefarzt gegangen bist und die Zeitkonten von Dir und Deiner Frau überziehst und irgendwie leidest. Oder täusche ich mich?

Liebe Grüße

Christiane

Danke für das Lob ! Du hast mich in gewisser Weise erwischt. Ich habe ja sehr viele Baustellen, kann davon aber nicht leben. Meine Stelle in Bad Kösen habe ich letztlich aufgeben wollen, weil die Strukturen dort mir nicht zusagten. Ich war dann für einige Monate wieder ganz zu Haus und habe in einer Kinder- und Jugendpsychosomatik gearbeitet. Das war aber letztlich auch nicht befriedigend. Und daher habe ich jetzt den Schritt an die Spitze gewählt. Vor einigen Jahren habe ich nur im Internet gearbeitet. Das war toll. Und dann einmal für einige Monate sehr viel Geld über das Internet durch Fragen beantworten bekommen. Letztlich bin ich jetzt aber auf angestelltes Einkommen angewiesen, um meine Familie zu ernähren.